Wie die Zivilgesellschaft in der Ostukraine mit den selbsternannten Volksrepubliken über den Frieden spricht

Ein kalter Märzregen empfängt die Teilnehmenden des dritten von der Gruppe Donbass-Dialog organisierten „Dialog-Marathons“ bei der Ankunft auf dem Ferienresort „Aquatoria“ bei Jazkoe im von der Ukraine kontrollierten Teil der Region Donetsk in der Ostukraine. Schmucke und gemütlich eingerichtete hell- und dunkelbraune Blockhäuschen mit steilen Giebeldächern sind als Unterkünfte über das umzäunte Resort zwischen hohen Föhrenstämmen verteilt. Über die Umzäunung sind die Blockhäuser anderer Ferienbasen zu sehen, auf einer der Anrainerparzellen sind zwei Hochhäuser mit Wohnungen am entstehen, aber es scheint, dass die Bauarbeiten schon seit längerem für unbestimmte Zeit unterbrochen wurden. Die Luft im weitläufigen Wald beim grossen Stausee wäre frisch und rein, würden nicht hin und wieder Geruchsschwaden wie von verbranntem Gummi vorbeiziehen, die wohl aus den Kaminen von alten Ölheizungen oder von einer Abfallhalde irgendwo in der Nähe entweichen.

Rund 25 Personen unterschiedlicher Hintergründe aus Kiew und der Ostukraine haben sich eingefunden, um während fünf Tagen einen gemeinsamen Dialog über Wege zum Frieden zu führen. Per Internet werden weitere ukrainische Teilnehmende von beidseits der Frontlinie sowie aus Russland für einzelne Blöcke online zugeschaltet. Plenums- und Gruppenarbeit wechseln einander ab. Experten aus der Ukraine, Russland, Serbien, Australien und der Schweiz geben on- und offline Erfahrungen von anderen Ländern, Anregungen zur Methodik und politische Analysen zum Besten.

Moderierte Online-Gespräche mit Videokonferenz-Technik sind eine Besonderheit des Donbass-Dialoges. Sie ermöglichen den Einbezug von Personen, die aus Sicherheits-, Zeit- oder Kostengründen nicht in der Lage sind, physisch vor Ort zu erscheinen. Solche von technischen Faktoren wie der Qualität der Internet-Verbindung beschränkten Online-Dialoge und Expertenbeiträge fordern von den Zuhörenden eine hohe Aufmerksamkeit ab. Gleichzeitig stellen sie eine niederschwellige Alternative zur persönlichen Teilnahme dar und können den Einstieg von quasi aussenstehenden Personen in den Dialogprozess erleichtern.

Aufgrund der vorgängigen Diskussionen im Facebook-Forum der Gruppe wurden drei Themen für den Marathon herauskristallisiert: Amnestie, die Krim und die Rolle der Medien im Konflikt. Jedes dieser drei Themen entwickelt im Verlaufe des Dialoges eine andere Dynamik.

Zum Thema Amnestie bringen die Teilnehmenden eine Reihe konkreter Vorschläge hervor. Grundsätzlich wird eine Generalamnestie für alle am Konflikt Beteiligten vorgeschlagen. Das bedeutet, dass keine Gerichtsverfahren zur Feststellung des Vorliegens einer Amnestie im Einzelfall notwendig sein sollen. Einzige Bedingung für die Amnestie soll die permanente Einstellung der Kampfhandlungen und damit implizit verbunden die Übergabe von Waffen und den Zugang der Ukrainischen Regierung zum Territorium sein. Dass Kriegsverbrechen von der Amnestie ausgenommen werden sollen, ist selbst bei den selbsternannten Volksrepubliken unumstritten. Einige Fragen wie z.B. Eingriffe ins Privateigentum, die Zerstörung ziviler Infrastruktur oder das Organisieren der Unabhängigkeitsreferenda, können aus zeitlichen Gründen nicht vollständig ausdiskutiert werden; sie erfordern eine vertiefte Betrachtung und allenfalls Sonderregeln.

Ungeachtet dieser zivilgesellschaftlichen Vision sind die Dialogteilnehmenden der Ansicht, dass eine politische Amnestie zwar ein notwendiger Schritt zum Frieden ist, dass aber nur ein breit angelegter nationaler Dialog eine langfristige Versöhnung zwischen West und Ost hervorbringen kann kann.

IMG_20170324_090121Strand des Resorts „Aquatoria“ beim Krasnopil’s’ke Stausee in der Ostukraine

Zum Thema Krim entwickelt sich das Gespräch in Richtung der persönlichen Beziehungen der Anwesenden zur Krim sowie um ein gemeinsames Verständnis des von der Krim-Bevölkerung befürworteten Unabhängigkeits-Referendums und seiner Hintergründe. Wie frei entschied sich die Krim-Bevölkerung am 16. März 2014, sich von der Ukraine loszusagen, ist eine der zentralen Fragen, wenn es um die Haltung der Ukrainerinnen und Ukrainer zu den Menschen auf der Krim geht. Diese Frage kann aber nur aus der Distanz angegangen werden, denn wegen Sicherheitsbedenken haben die für eine Online-Dialogteilnahme angefragten Personen aus der Krim ihre Beteiligung kurzfristig abgesagt.

Auch das Thema Medien wird wenig kontrovers angegangen, trotz sehr unterschiedlicher Hintergründe der Online-Dialogführenden. Ein Grund ist auch hier in die Angst der teilnehmenden Journalisten aus Donetsk und Kiew vor möglichen negativen Konsequenzen zu vermuten. Im Expertengespräch stellt sich heraus, dass sich die Wahrnehmung zur Rolle der Medien im Konflikt im Verlaufe des letzten Jahres gewandelt hat: während diese Rolle vor einem Jahr als ausschlaggebend eingestuft wurde, wird sie heute als auf den Konfliktverlauf wenig einflussreich eingeschätzt. Auf ukrainischer Seite gibt es zwar keine offizielle Zensur, aber viele Journalistinnen und Journalisten passen ihre Artikel von sich aus dem akzeptierten Mainstream an („Selbstzensur“).

Am vierten Dialogtag geht in der Nähe von Kharkiv das grösste Munitionslager der ukrainischen Armee in Flammen auf. Den ganzen Tag über ist von der gegenüberliegenden Seite des Stausees her das Donnern der Explosionen zu hören. Ab Mittag fällt die Internet-Verbindung aus und kann erst am nächsten Morgen wieder hergestellt werden. Trotzdem wird der Dialog mit einer Programmanpassung weitergeführt.

In der Schlussrunde kommt ein Thema als Priorität für die künftige Arbeit des Netzwerks auf: Trauma. Tausende Menschen sind durch den Konflikt traumatisiert, und für die Bewältigung dieser Belastung stehen praktisch keine Angebote zur Verfügung. Dialog- und Narrativ-Arbeit sind mögliche Instrumente, die Problematik anzugehen. Dabei muss unterschieden werden zwischen der „gewöhnlichen“ Zivilbevölkerung und deren Bedürfnisse einerseits und Gruppen mit besonderen Bedürfnissen wie Front-Rückkehrer oder Flüchtlinge und Vertriebene andererseits.

Trotz Finanzierung des Anlasses durch die UNO ist das dreiköpfige Organisatoren-Team vorsichtig in Bezug auf eine breite Veröffentlichung der Resultate des Marathons; wiederum bestehen Bedenken in Bezug auf die persönliche Sicherheit. Diese sind verständlich in einer Situation, in der die faktischen Entwicklungen in den letzten Monaten in die entgegengesetzte Richtung einer Re-Integration der selbsternannten Volksrepubliken „DPR“ und „LPR“ in die Ukraine gehen[1]. Ein detailliertes Schlussdokument soll aber nichts desto trotz online aufgeschaltet und einem Kreis interessierter Personen und Organisationen zugestellt werden.

Angesichts der Realität der weiteren Eskalation des Konfliktes, der zunehmenden faktischen Trennung der selbtsernannten Volksrepubliken von Donetsk und Lugansk vom Rest der Ukraine und der vorherrschenden Kriegsrhetorik der politischen Akteure beider Seiten stellt ein Anlass wie der dritte Donbass-Dialog-Marathon ein Ruf in der Wüste dar. Aber bis zum Ende der fünf Tage ist unter den Teilnehmenden die Überzeugung gewachsen, dass das Ende des Konfliktes nur eine Frage der Zeit ist. Im Verlaufe des Marathons ist – trotz all der Schwierigkeiten und Hindernisse –  eine Hoffnung entstanden. Es ist die Hoffnung, dass die leisen Stimmen des Friedens nach und nach gehört werden, und dass gleichzeitig der Lärm des Krieges immer leiser wird, bis er schliesslich vollständig verstummt.


[1] Nationalistische Aktivisten blockierten in den vergangenen Wochen die Güterverbindungen zwischen der Ukraine und „DPR/LPR“. Präsident Poroschenko sprach sich anfänglich vehement gegen diese Blockade aus, da die Menschen in DPR/LPR Bürger der Ukraine seien und keine anderen Einkommensmöglichkeiten hätten. Aber ein Tag nach Beendigung der Blockade gab der Ukrainische Sicherheitsrat nicht nur den Forderungen der Nationalisten nach, sondern ging sogar noch weiter. Nach den kleinen und mittleren Unternehmen sind somit jetzt auch die grossen Unternehmen von der Wirtschaftsblockade betroffen. Als Gegenreaktion seitens „DPR/LPR“ wird die vormalige „Kontaktlinie“ nun in den internen Regularien als „Landesgrenze“ bezeichnet, und die Kontrollen wurden entsprechend verschärft.